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Einweihung in den Lebenstanz

Fortsetzung der Geschichte "Der rebellische Bauch"

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Wir lebten in Bagdad in der Nähe des Flusses Tigris. Unser großes Haus hatte Platz für meine Großeltern, meine Eltern, einigen Tanten und Onkeln mit ihren Familien und Cousinen meiner Eltern und Großeltern.

 

Ich erinnere mich, wenn meine Großmutter sprach, umhüllte ihre Stimme mich mit Autorität. Sie war eine ernst blickende Frau, deren Augen alles sahen und scharf  beobachteten. Man konnte nichts vor ihr verheimlichen. Ich hatte als Kind großen Respekt vor ihr. (*13,14)

 

Sie beobachtete mich oft von ihrer Bank aus, auf der sie im Schneidersitz ruhte. Stundenlang saß sie da, ohne sich zu bewegen, während alle im Haus zu ihr kamen und sie um Rat baten oder Befehle entgegennahmen. Sie war eine stolze, von unsichtbarer Kraft durchdrungene Frau. Wann immer sie mich rufen ließ, wusste ich, dass dies mit einer Prüfung verbunden sein würde. (13) Manches Mal erzählte sie mir von anderen Mädchen oder Frauen und gliederte mich so in die Kette der Frauen ein. Ich hatte dadurch das Gefühl einer unsichtbaren Schwesternschaft anzugehören. (*15)

 

Als Mädchen trug ich das Haar lang, denn nach alter Beduinenüberlieferung glaubte man, dass der Sitz der Seele in den Haaren läge. Jeden Morgen wurde mein Haar von zwei Tanten gekämmt. Die Prozedur war meist mit viel Geschrei verbunden, doch die Tanten ließen sich nie aus ihrem Rhythmus bringen und kämmten in Ruhe weiter, bis sie meine Haare zu zwei Zöpfen geflochten hatten.

 

Seit ich vier war, nahm mich meine Großmutter mit, wenn sie Besuche machte. Meist ging es zu großen Frauentreffen, bei denen Frauen aller Altersgruppen mit ihren Kindern zusammenkamen. Die Frauen unterhielten sich, tranken Tee, tauschten Neuigkeiten aus und besprachen ihre Sorgen und Probleme. Das Geben und Nehmen von gegenseitiger Kritik und wechselseitigem Lob, von gutgemeinten Ratschlägen und erfahrungsträchtigen Kommentaren schien nie enden zu wollen. Man war offen zueinander und vertraute sich dem Anderen an.

 

Bei solchen Treffen lag etwas sehr Ehrliches in der Luft, das wohltuend wirkte und alles Damenhafte, Pietätvolle beiseiteschob. Die eine spreizte unverblümt die Beine, wenn ihr beim Gespräch danach war, die andere wälzte sich vor Lachen am Boden.

 

Solche Zusammenkünfte, bei denen man sich gegenseitig unverbrämt die Wahrheit sagte, die Schwachstellen kitzelte, zusammen alberte und tief aus dem Bauch heraus lachte, stärkten die Frauen und gaben ihnen die Kraft und den Mut, die Dinge auch anders zu sehen und leichter zu nehmen.

 

Die Frauen besprachen auch das Leben der Männer und deren Verhalten in ihren Berufen. Aber auch ihr Verhalten innerhalb der Familie wurde bis hin zum Sexualleben offen diskutiert.

 

Am Aufregendsten wurde es immer dann, wenn eine der Frauen aufstand, eine Musikkassette einlegte, sich ein Tuch um die Hüften band und sich langsam zur Musik wiegend in eine andere Welt versetze, um dann für uns zu tanzen. Alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf sie, die Spannung in den Körpern der Frauen nahm zu, sie richten sich auf.

 

Ihre Blicke füllten sich mit einem alten, bis dahin verborgenem Wissen und sie begannen die Tanzende anzufeuern und ihr zuzurufen:

 

„ Wie schön doch ihre Augen geformt sind!

„Anmutig und stark, wie eine Bambusgerte.“

„Heb den Kopf, stolze Fatima!“

„Hast du gesehen, wie gepflegt ihre Füße sind?“

„Sieh doch, wie weich ihre Hüften kreisen.“ 

 

Die Zusehenden klatschten im Rhythmus und trillerten schrill vor Begeisterung. Die Zurufe waren aufgeregt und voller Anteilnahme redeten alle durcheinander. War die Tänzerin fertig, nahm sie das Tuch ab und band es einer anderen Frau um. Sie gab damit den Tanz weiter. Lief ein kleines Mädchen zu der Tanzenden in die Mitte und begann ebenfalls zu tanzen, erstrahlten die Gesichter der älteren Frauen und sie lachten laut auf, denn das Leben hatte wieder einen neuen Rhythmus bekommen, einen, der uns voraus war und der auch nach uns noch kommen wird.

 

Mehrere Male nahm mich meine Großmutter zu solchen Zusammenkünften mit. Jedes Mal beobachtete ich fasziniert das Geschehen und hörte den älteren Frauen zu. Sie erfreuten sich an ihrer Schönheit und konnten über ihre Schwächen lachen. Sie teilten sich ohne Scham und Furcht der Frauenschar mit. Jede Frau spürte, dass sie eine Bereicherung für die Gemeinschaft darstellte. All dies bekamen wir Mädchen bei diesen Treffen, bei unseren Frauenritualen, mit und es half uns auf unserem Weg zur Frau, zur Mutter und zum alten Weib.

Das Blut fließt

 

Ich wusste, dass dieser Tag kommen und mein ganzes Leben verändern würde. Mutter hatte mir oft genug davon erzählt. Aber doch nicht jetzt! Angst überkam mich und ich spürte, wie sich die Welt um mich verdunkelte. Ich lief in mein Zimmer und überlegte, was zu tun sei. Konnte ich es vielleicht geheim halten? So tun als wäre nichts geschehen?

 

Nach langem Überlegen beschloss ich zu meiner Mutter zu gehen. „Mutter, sie ist gekommen“, sagte ich leise und mit trauriger Miene. Meine Mutter sah mich an und strahlte über das ganze Gesicht. Sie kam näher und blickte mir tief in die Augen. „Gratuliere, meine Tochter, jetzt bist du eine Frau geworden!“ Ich verstand ihre Freude nicht, denn für mich brach eine Welt zusammen. Mutter umarmte mich und bevor ich etwas sagen konnte, wurde diese „freudige“ Nachricht auch schon in der Familie verbreitet. Alle Frauen kamen und sahen mich mit freudigen Gesichtern an. Ich gehörte jetzt zu ihnen.

 

„Heute wird deine Lieblingsspeise gekocht“, sagte die eine. Eine Andere brachte mir einen Schal als Geschenk. Von meiner Tante bekam ich bunten Stoff und das Versprechen, sie würde ein besonders schönes Kleid für mich nähen. Plötzlich tauchten mehrere Binden auf, die sie mir lachend entgegenhielten.

 

Ich empfand all das Getue als sehr peinlich und wäre am liebsten alleine mit mir selbst geblieben. Den ganzen Freudentaumel der Anderen musste ich jetzt über mich ergehen lassen. Mutter kam mit einer kleinen Schachtel ins Zimmer, drückte sie mir in die Hand und bat mich, sie zu öffnen. Ein Ring mit einer Perle kam zum Vorschein. „Diesen Ring habe ich speziell für diesen Anlass anfertigen lassen“, sagte sie. Ich lächelte matt, als sie mir den Ring über den Finger zog.

 

Sachte begann meine Mutter zu sprechen:

„Du bist jetzt eine Frau geworden und dies bedeutet, dass du dich auch wie eine Frau benehmen sollst. Deine Aufgaben und dein Benehmen werden sich jetzt verändern, mein Kleines.“

 

Ich wusste, was jetzt kommen würde, denn ich hatte schon früher bemerkt, wie Mädchen nach diesem Ereignis aus der Kinderschar verschwanden und nicht mehr zu uns gehörten. Mir schossen die Tränen in die Augen. Ich wollte nicht anders werden, ich wollte meine Spiele nicht aufgeben. „Können wir nicht noch ein wenig warten, Mutter?“ fragte ich schüchtern.

 

„Das geht nicht!“, erwiderte meine Tante, „das Blut fließt und alles muss seinen Lauf nehmen.“ Es gab also kein Entrinnen und schweren Herzens akzeptierte ich meinen Einstieg in die Welt der Frauen.

 

Das große Fest

 

Eines Tages entschieden sich die Frauen meiner Familie, in unserem Haus ein Fest zu veranstalten. Drei Tage lang wurden Vorbereitungen getroffen. Ich half fleißig mit. Es herrschte große Aufregung und das ganz Haus war erfüllt von den emsigen Bewegungen der Frauen.

 

Als der große Tag kam, die Gäste die Räume füllten und die Luft immer dichter wurde, rief mich meine Tante zu sich und sagte:

 

„So, jetzt ist deine Zeit gekommen, Fawzia! Du darfst zum ersten Mal vor den Gästen tanzen!“

 

Mir blieb bei diesen Worten die Luft fast weg und meine Knie fingen an zu zittern. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen und verstand erst jetzt die Bedeutung dieses Festes. Am liebsten wäre ich davongelaufen. Doch meine Tante stand so mächtig vor mir und ihr Lächeln, das auf mich mehr wie ein Zähne fletschen wirkte, hinderte mich daran. Doch gleichzeitig mischte sich mit meiner Angst der süßliche Duft des Kampfes, der mich dazu trieb, diese Aufforderung anzunehmen.

 

Nicht als Opfer wollte ich diesen Raum betreten, sondern als Fawzia!

Und so kam es auch.

 

Meine Tante reichte mir ein Tuch, das ich mir um die Hüften band. Ich lauschte kurz der Musik und ging hinein. Alle Gäste wandten sich mir zu und lächelten aufmunternd. Ich fing an, mich langsam zu bewegen und mich in den Rhythmus einzustimmen. Steif und unbeholfen kam ich mir vor. Ich litt unter dieser geballten Aufmerksamkeit.

 

Da fiel mein Blick auf meine Großmutter, die ruhig unter den Gästen saß und mich kurz mit ihren Augen streifte. Ihre Ruhe gab mir Zuversicht und ich glitt tiefer in die kreisenden Bewegungen.

 

Langsam verschwammen die Zuseher und auch meine Großmutter nahm ich bald nicht mehr wahr. Ich hörte meinen Herzschlag, der mir den Rhythmus gab und ich spürte, wie mein Körper sich in den Bewegungen verlor, die älter waren als ich selbst. Freude und Stolz überkamen mich und ein tiefes inneres Wissen formte meine Lippen zu einem Lächeln. Ich weiß nicht, wie lange ich tanzte, denn mein Gefühl für Zeit war mit der Hitze meines Tanzes verschmolzen. Die innere und die äußere Welt berührten einander. Ich war in diesem Moment weder jung noch alt.

 

Das Ewige rief in mir und ich gab diesem Lebensruf nach und tanzte so intensiv und innig wie das Leben. Als ich aufhörte und aus dem Raum lief, hörte ich das Klatschen der Gäste und ich wusste, dass ich meine Initiation erfolgreich beendet hatte.

 

 

Nach diesem Tanz bekam ich keine Unterweisungen mehr von meiner Großmutter und das Wort „klein“ wurde nicht mehr vor meinem Namen gesetzt. Mein Tanz entließ mich in eine neue Welt. Nun durfte ich selbst wählen, wie ich damit weiter umgehen würde.(38) ***

 

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***Auszüge aus dem Buch von Rosina-Fawzia Al-Rawi, "Der Ruf der Großmutter oder die Lehre des wilden Bauches", Promedia Verlag

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Fawzia beendete ihre Erzählungen mit den Worten: „Das, Maria, waren meine Erfahrungen mit dem Frau werden. In unserer Kultur, in der Fruchtbarkeit existentiell wichtig war, gehörten die Zusammenhänge zwischen Sexualität, Menstruation und Geburt zum Alltagswissen. Und der Tanz war das Mittel des Ausdrucks dieses Wissens.

 

Bei uns hat die hohe Kunst des Tanzes eine jahrhundertalte Tradition. Wir tanzen zur Feier unserer Weiblichkeit! Der Tanz hat eine große Bedeutung für unsere Gesundheit und Fruchtbarkeit. Die kreisenden Bewegungen um die innere Mitte stärkt nicht nur die Muskulatur, sondern hält das Becken elastisch und geschmeidig und trägt dazu bei, für gesunde Schwangerschaften und Geburten offen zu sein. Frauen, die ihren Unterbauch stärken, kennen keine Schmerzen, die durch Stauungen im Unterbauch verursacht werden.“

 

Langsam kam Maria wieder zurück aus der Welt der Frauen und in ihrem Herzen spürte sie noch die Nestwärme und das Eingebettet sein, die Fawzia´s Leben begleitet hatten, diese grundlegenden Erfahrungen, die scheint´s ihrer Frauen- und Ahnenreihe entstammten.

 

Vielleicht ist das das Geheimnis ihrer angenehmen und kraftvollen Präsenz, die bei Anderen ein Gefühl des Vertrauens hinterließen. Mit einem Mal erkannte Maria, wie weit sich die westlichen Frauen vom Ursprung, von ihrer eigenen weiblichen Kraft entfernt hatten.

 

Werden wir wieder zu unserer Weiblichkeit zurückfinden, unsere weibliche Essenz stärken, die uns mit dem Ewigen, der inneren Weisheit eins werden lässt?

 

Ja, das obliegt den Frauen der Gegenwart und ihren Töchtern, die wiederum dafür sorgen, dass das Leben  einen neuen Rhythmus bekommt, einen, der uns voraus war und der auch nach uns noch kommen wird.